Unter dem Motto Bürgerdiplomatie" veranstalteten der Chaos Computer Club (CCC) aus Hamburg und der Computerclub im Haus der jungen Talente (HdjT) aus Ost-Berlin einen Kommunikations-Kongreß am 24. und 25. Februar. Zu KoKon "90 kamen rund 400 Besucher zusammen, wobei für DDR- und BRD-Teilnehmer einiges an Informationen herauskam.
Das Haus der jungen Talente ist eine staatliche Einrichtung, in der verschiedenste kulturelle Angebote stattfinden. Bezahlt wird das Ganze (noch) vom Magistrat von Berlin (und nicht von der FdJ, wie einige westliche Teilnehmer vermuteten): eine Reihe festangestellter Mitarbeiter betreut die Aktivitäten.
In dem offenen Computerclub treffen sich seit vier Jahren die Computerfans. Die Hardware-Ausstattung ist für westliche Verhältnisse stark veraltet, aber immerhin sind Westgeräte wie C-64, ATARI 800 und CP/M-Rechner vorhanden. Der Leiter des Clubs. Stefan Seeboldt, hält es sich zugute, daß er versucht hat, Westgeräte zu bekommen, und nicht auf die DDR Homecomputer von ROBOTRON gesetzt hat. Diese sind in etwa mit den Gummitasten-Rechnern von Sinclair vergleichbar.
Westliche Rechner waren durchaus in der DDR verfügbar, als Mitbringsel von Westreisen und in sogenannten Wiederverkaufsläden. Ironischerweise nahmen sich die Preise wie ein perfektes Spiegelbild der Relation von Angebot und Nachfrage aus. Ein gut ausgestatteter C-64 mit Laufwerk kam über 20.000 Mark der DDR, für einen AMIGA 20(X) (ebenfalls in guter Ausstattung) mußten glatte 100.000 M (in Worten: einhunderttausend) aufgewendet werden. Für einen ATARI 520ST ohne weitere Ausstattung brauchte es 15.000 M. eine normale Diskette wurde für 100 M gehandelt. Stellt man dem einen durchschnittlichen Monatsverdienst von 1000 M (1985) gegenüber, bleibt dem westdeutschen Computerfreak mit Zweit- und Drittcomputer der Mund offen stehen.
Heute sieht man sich bei ersten Versuchen, Mailboxen aufzubauen, enormen technischen Schwierigkeiten mit dem Telefonnetz gegenüber. Lediglich um die 9 Prozent der Haushalte haben einen Anschluß, und dieser wiederum behindert Datenkommunikation durch die schlechte Leitungsqualität nachhaltig. So kam durchaus Erstaunen darüber auf, daß erstmals auch eine 1200 Baud-Verbindung ausgebaut wurde.
Eröffnet wurde die KoKon '90 durch eine kurze Einführung und Vorstellung durch Stefan Seeboldt, Leiter des Computerclubs im HdjT. sowie Steffen Wernery und Wau Holland vom CCC. Programmatisch war dabei die Feststellung von Holland, daß die nun auch in der DDR einziehende komplexe Technik ein deutlich höheres Maß an individueller Verantwortung und Freiheit mit sich bringt.
Im Anschluß zeigten die Veranstalter ein Video, das sich zunächst kritisch mit der Währungsreform in den Westzonen 1948 beschäftige und nach wies, daß damals keineswegs eine Chancengleichheit in der materiellen Stellung der Bürger bestand. Es folgte ein Zusammenschnitt verschiedener Fernsehberichte, die ein Schlaglicht auf die Anwendung moderner Technologien und deren Folgen warf. Leider kam es zu keiner weiteren Diskussion dieses Videos mit deutlichem Bezug zu den bevorstehenden Veränderungen in der DDR.
Die folgende Einführung in Grundbegriffe der DFÜ und von Netzwerken war nicht sonderlich strukturiert und versuchte beispielsweise das komplette 1SO-OSI-Modell in zwei Minuten zu erläutern. Nachdem die Kosten für DFÜ (DM 3(XX) für 9600-Baud-Modems) geschildert wurden, stellte ein Teilnehmer die Frage, ob es denn gerechtfertigt sei, teure Rechnernetze zu installieren, wenn momentan eine vernünftige Versorgung mit öffentlichen Fotokopierern für die Demokratisierung des Landes auch politisch vielleicht wichtiger wäre.
Wau Holland nahm dies zum Anlaß, seinen Vorschlag für den Einsatz von Rechnertechnologien in der DDR vorzustellen. Danach könnten vor Ort sogenannte Informations-Shops entstehen. Diese sollten für jeden Bürger zugänglich sein und umfassende Möglichkeiten zur Information und Kommunikation bieten. Dazu zählten beispielsweise ausgelegte internationale Zeitungen, Telefone und Fotokopierer.
Wäre jeweils ein Rechner installiert und die Informations-Shops darüber vernetzt, könnten umfangreiche Informationen republikweit bereitgestellt und verbreitet werden. So ließen sich auch Bürgerarchive und Adressenlisten per Datenbanken anbieten.
Im weiteren Verlauf des Kongresses wurden verschiedene Themen auf dem Podium mit wechselnden Referenten und Diskutanten verhandelt. Nicht sehr glücklich gewählt waren die Themen Brainmachines und Cyberspace. Die eher zeitgeistigen Brainmachines wurden vollmundig mit Erläuterungen (zur Messung der Gehirnwellen bei der Meditation wurde in den USA ein Mönch im Biofeedback-Labor an ein EEG gehängt) und Begriffen wie Entspannungs-Technologien beschrieben. Nach einigen detaillierten Exkursen in die biologischen Wirkungen von (noch dekadent-westlichen) Drogen und in die Therapiewelle unserer modernen' Gesellschaft, stellte sich für die Teilnehmer die Frage, wo denn noch die Verbindung zum Thema Computer und dem KoKon sei. Hier hatte der CCC bei den Einladungen doch etwas daneben gegriffen.
Das eigentlich interessante Thema Cyberspace (eine künstliche Realität wird im Rechner erzeugt und der Benutzer geht völlig darin ein) erschien auch etwas deplaziert. Wenn man bedenkt, daß die westlichen Technikstandards für DDR Bürger noch vor kurzem völlig utopisch waren und Cyberspace auch im Westen eine reine Zukunftsutopie ist, dann wäre die Zeit vielleicht für etwas mehr Realitätsbezug (sic!) besser genutzt. Der Ausspruch auf der anderen Seite des Bildschirms auftauchen zu diesem Thema hatte auch einen aparten Bezug zur früheren Mauerrealität.
Höhepunkt des ersten Veranstaltungstags war eine Diskussion unter dem Thema Warum man Software klauen muß.
Vorgestellt wurde diese provokante These vom DDR-Professor Dr. Horst Völz, Akademie-Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse. Ihm gegenüber saß auf dem Podium neben dem Rechtsanwalt Freiherr von Grafenreuth aus München, der in der bundesdeutschen Kopiererszene als Anwalt großer Software-Vertreiber wie Ariolasoft gefürchtet ist.
Völz stellte zwei Thesen seines Kollegen Manfred Bonitz aus Dresden vor, nach denen Wissenschaft nach den Prinzipien Holographie und Geschwindigkeit organisiert sei. Ersteres besagt, daß ein Wissenschaftler daran interessiert ist, eine neue Idee möglichst überallhin zu verbreiten, damit sie jedem bekannt wird. Und er ist nach dem zweiten Prinzip daran interessiert, daß diese Verbreitung so schnell wie möglich geschieht.
Völz erweitert die Anwendung dieser Prinzip auf prinzipiell alle Informationen, nicht nur auf wissenschaftliche. Daraus folgert er - wie mehrmals wiederholt, provokant -, daß auch Programme und Daten schnell allen verfügbar gemacht werden müssen.
In der Praxis heißt das natürlich, daß Raubkopieren nicht illegal sein dürfte. Eine Grenze zog Völz bei der kommerziellen Nutzung von Programmen und schlug dafür ein Abgabesystem vor, das den Verwertungsgesellschaften, beispielsweise für musikalische Werke, entsprechen sollte.
Für Grafenreuth stammte ein solcher Entwurf aus dem akademischen Elfenbeinturm, der in der Praxis nicht durchführbar wäre. Auch eine Abgabe auf Disketten - wie inzwischen bei Kopiergeräten - hielt er aufgrund unterschiedlicher Laufwerkskapazitäten nicht für handhabbar.
Er führte weiter aus, daß das Rechtssystem der DDR keineswegs Raubkopien legalisiere -seiner Meinung nach würden DDR-Gerichte bei gleicher Rechtslage auch nach DDR-Recht wie der Bundesgerichtshof entscheiden, der Computerprogrammen grundsätzlich eine Schutzfähigkeit zuerkannt hat. Rechtlich der größte Unterschied zwischen der BRD und der DDR sei in bezug auf Raubkopien das Wettbewerbsrecht.
In der sich daraufhin entwickelnden Diskussion mit dem Publikum wurden verschiedenste Argumente für ein hartes oder ein liberales Urheberrecht für Computerprogramme vorgebracht. Wesentlich neue Vorschläge ergaben sich aber nicht, wenn man sich die Diskussion in der BRD im Rahmen der steigenden Verbreitung von Heimcomputern in Erinnerung ruft.
Ein spezielles DDR-Problem wurde aber deutlich: Fast die gesamte in der DDR privat genutzte Software scheint nicht lizensiert zu sein. Ein Programmierer der für DDR-Unternehmen arbeitet, bekannte. daß er sich nicht sicher sei, ob die von den Firmen bereitgestellte Entwicklungs-Software legal gekauft wurde. Tatsache ist, daß die Betriebssysteme SCP und DCP starke Ähnlichkeiten mit CP/M und MS-DOS haben und auch Anwendungen wie REDABAS (RElationales DAten-BAnkSystem) mehr als nur dBASE II kompatibel sind.
In einem Vortrag am zweiten Veranstaltungstag führte Professor Völz seine Thesen weiter aus. Er definierte eine Informationsschwelle, die dann überschritten wird, wenn jeder jede Information erhalten kann und eine einmal entstandene Information sich nicht mehr vernichten läßt. Er hält diese Schwelle heute für erreicht und machte auch den Bezug zu politischen Entwicklungen deutlich.
Informationen entstehen seinen Überlegungen nach durch Kreativität. In einer Art Knigge für den Umgang mit Informationen - der nach einigen Schwierigkeiten auch in der (Ost-)Berliner Zeitung erschienen ist - fordert er, daß jede neue Information möglichst schnell, verständlich und korrekt verbreitet werden soll. Gibt jemand eine falsche Information weiter, so muß er diesen Fehler zugeben und versuchen zu beheben.
Auch wenn die Thesen sehr leicht auf die politische Entwicklung in der DDR anzuwenden sind, wurde auch der Bezug zum Kongreß und zur Computertechnik deutlich. Sie begründeten beispielsweise seinen tags zuvor vertretenen Standpunkt in Sachen Urheberrecht und zeigten auch, daß die Frage der entstehenden Informations-Gesellschaft in der DDR nicht ausschließlich die Anwendung von Netzwerktechniken umfaßt.
Eine weitere Diskussion sollte das Thema Computerkriminalität in der DDR beleuchten. Die Einführung von Dr. Thaten und Dr. Lenz vom Institut für Datensicherheit litt etwas darunter, daß Zahlen zur Computerkriminalität in der DDR nicht Vorlagen. Die Referenten konnten somit nur westliche Zahlen verwenden und mußten feststellen, daß das Gefährdungspotential im Gebiet der Computerkriminalität in der DDR nur sehr unzureichend erkannt würde. Auch gäbe es keine vernünftigen gesetzlichen Regelungen im Feld Datenschutz und -Sicherheit, lediglich eine Anleitung zur Gewährleistung der Datensicherheit von 1989, die Ausführungsregelungen allerdings offen ließe. Nach Auffassung der Referenten darf sich Datensicherheit nicht nur auf technische Vorkehrungen beschränken, sondern muß einen kompletten Verarbeitungsprozeß und alle seine Komponenten miteinbeziehen.
Die sich anschließende Diskussion wurde leider fast ausschließlich mit den ebenfalls auf dem Podium anwesenden Westlern Steffen Wernery und dem Freiherm von Grafenreuth geführt und behandelte Haftungsfragen beim Rechnereinsatz.
KoKon '90 wurde abgeschlossen mit weiteren Diskussionen zu den Themen Computerviren, westliche Erfahrungen mit Bürgerradios und östlichen Erfahrungen zu Machtmißbrauch in, mit und durch Medien.
Parallel zu den Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen fand eine Reihe von Workshops und Demonstrationen zu Themen wie Computereinsatz und Umweltschutz, UNIX-Netze, Computerschule für Mädchen oder Brainmachines statt. Eine ständige Einrichtung war auch der Copy-Shop, der mit dem Archiv des CCC. diversen kommerziellen und Hacker-Zeitschriften sowie zwei Fotokopierern bestückt war.
Das Angebot wurde rege genutzt und die Anzahl der Kopien läßt annehmen, daß in der DDR demnächst sehr viele Datenklos" gebastelt werden. Diese Erfindung aus den Anfängen des CCC ist ein 300 Baud-Akustikkoppler im Selbstbau und hat seinen Namen von den verwendeten Gummidichtungen aus dem Sanitärbedarf. Der Copy-Shop war für die Dauer des Kongresses eine erste Anwendung der vorgeschlagenen Informations-Shops.
Die Organisation des Kongresses hatte gewisse Mängel, die die Veranstalter als das typische Chaos bezeichneten. Der angekündigte Terminplan wurde mehrfach umgeworfen und einige Veranstaltungen fielen aus, darunter leider auch zwei Diskussionen mit Vertretern der Post und vom (vormaligen) DDR-Vorzeigebetrieb ROBOTRON (im Westen hauptsächlich durch Drucker bekannt). ROBOTRON hat bisher die Computerproduktion der DDR geleistet - ein Zusammentreffen mit den anwesenden Computerfans des früheren SED-Staats wäre sicherlich interessant gewesen. Auch der für den zweiten Tag angekündigte Bericht über die Fernmeldetechnik des früheren Ministeriums für Staatsicherheit (Stasi) entfiel.
Wirklich einmalig war für den Westbesucher sicherlich die mit Braunkohle-Briketts betriebene Gulaschkanone vom Katastrophen- und Zivilschutz Berlin. Der typische DDR-Geruch bestrich so auch kurzzeitig das Kongress-Gebäude.
KoKon '90 hat eine Menge interessanter Einblicke gebracht. Die Computerszene der DDR ist im Aufbruch und dabei wird einiges an Kreativität durch die neuen Möglichkeiten freigesetzt. Gleichzeitig wird das Konsumangebot andere, bisher notwendige Fähigkeiten im Tüfteln und Improvisieren überflüssig und somit verloren machen. Schmerzlich wird auch auch ein Kassensturz für die bisherigen Computerbesitzer ausfallen, deren Rechner kaum noch einen Weiterverkaufswert haben, früher aber teuer bezahlt werden mußten.
RT